Leben in Bayern

Der Holocaustüberlebende Roman Haller ist auch an vielen Schulen unterwegs, um über sein Leben zu erzählen. (Foto: Schuler)

10.05.2024

Auf der Flucht vor den Nazis geboren

Die dramatische Geschichte des in München lebenden Juden Roman Haller kommt jetzt international ins Kino

Der Vater liebte es, über die Vergangenheit zu reden. Was ihm und anderen Juden angetan wurde. Wie sie den sicheren Tod überlebten. Die Mutter dagegen schwieg. Als Kind konnte Roman Haller damals kaum zuhören. Er sagt, er habe das einfach nicht ausgehalten. Das änderte sich, als sein Vater 1988 starb. Da fing er an, Erinnerungen aufzuschreiben. Später wurde das Buch Davidstern und Lederhose über eine jüdische Kindheit in München daraus.

Nun sitzt Haller vor Schüler*innen in Aufkirchen im Landkreis Erding und erzählt von früher. Vom Ghetto, das aufgelöst werden sollte und den Tod der Juden bedeutete. Von einem deutschen Offizier der Wehrmacht, den er zunächst nur den Major nennt, und seiner polnischen Haushälterin, den beiden Lebensrettern. Vom Versteck im Wald in der Ukraine und seiner Geburt, die er nun wieder an vier Tagen – vom 7. bis 10. Mai – feiern wird. Gebannt hören Schüler*innen und Lehrkräfte zu. Vier Tage lang Geburtstag feiern? Für Kinder hört sich das fantastisch an. Haller kennt seinen Geburtstag nicht. Irgendwann in diesen Tagen vor 80 Jahren muss es gewesen sein.

Von Festival zu Festival unterwegs

Roman Haller war Unternehmer, arbeitete jahrelang für die jüdische Nachfolge-Organisation der Claims Conference, die sich für Entschädigungen der Opfer einsetzte. Eigentlich ist er im Ruhestand. Doch in diesen Wochen ist er viel unterwegs, um von damals und den Helden seiner Geschichte zu erzählen. Es ist eine dramatische Story, die jetzt als Spielfilm international ins Kino kommt. Haller war bei Premieren beim Filmfestival in Toronto in Kanada, in Italien, in Warschau.

Und immer wieder kommt dieser Moment, in dem er das Publikum in Staunen versetzt. Einfach, weil er da ist und auf die Bühne tritt oder ein Interview gibt, wie jetzt im April im polnischen Fernsehen. Roman Haller ist der Mann, der das Happy End in dieser Geschichte voller Gewalt, Tod und Hoffnungslosigkeit symbolisiert.

Wie im März bei der Montessori-Schule in Aufkirchen. Etwa 50 Schüler*innen und einige Eltern und Lehrkräfte haben in der Rotunde Platz genommen, als Geschichtslehrer Oliver Winkels erklärt, warum die Schule Haller eingeladen hat. Er spricht von Aufklärung und Demokratie. „Geschichte findet nicht nur in Büchern statt.“

Birgit Mair ist aus Nürnberg angereist. Sie begleitet Zeitzeugen seit vielen Jahren in Schulen in Bayern, um Verfolgung und Verbrechen der Nazis Jugendlichen näherzubringen und so einem Rechtsruck in der Gesellschaft entgegenzuwirken. Mit Haller ist es der erste Termin vor Ort, den sie mithilfe der SPD-nahen Georg-von-Vollmar-Akademie organisiert hat. Sie erlebe stets großes Interesse bei Schüler*innen. Wie in Aufkirchen.

Haller beginnt: „Im Mittelpunkt stehen zwei ganz besondere Menschen, die sehr viel Mut hatten. Die ihr eigenes Leben aufs Spiel setzten, um andere zu retten: ein Major der deutschen Wehrmacht, Eduard Rügemer, und seine junge polnische Haushälterin Irena Gut.“

Hallers Eltern lebten vor dem Krieg in Polen. Nach dem Einmarsch der deutschen Truppen wurden sie ins Ghetto Tarnopol verbracht. Dort herrschten „schreckliche Zustände“, wie Haller sagt. Enge, Hunger, Zwangsarbeit. Das Schlimmste sei die ständige Angst vor Selektionen und Deportationen gewesen. Immer wieder seien die Juden versammelt worden: Sie mussten nach links oder rechts treten. Die eine Seite bedeutete weiter Zwangsarbeit im Ghetto. Die andere Seite bedeutete den sicheren Tod in einem Vernichtungslager.

Seine Mutter habe ihm später, wenn sie doch einmal über die Zeit im Ghetto sprach, erzählt, dass sich die Frauen immer wieder kniffen, damit ihre Backen erröteten. Gesunde rote Backen sollten vor dem Tod schützen, weil die Gesunden arbeiten konnten. Andere wurden, begleitet von Musikgruppen der Verbliebenen, verabschiedet, in Eisenbahnwaggons gepfercht und in den Tod gerollt.

Zwölf zur Rettung ausgewählt

Der Wehrmachts-Major sei im Ghetto für die Fahrzeuge verantwortlich gewesen; Irena sei eine gläubige Katholikin gewesen. Als der Major erfuhr, dass das Ghetto liquidiert und die verbliebenen Juden erschossen und vernichtet werden sollten, hätten er und Irena beschlossen, Juden zu retten. „Sie wussten beide, dass diese Aktion für sie sehr gefährlich war, denn die Entdeckung würde den sicheren Tod der beiden bedeutet haben.“ Von den Tausenden Juden im Ghetto wählten sie zwölf aus.

„Mir war nie klar, warum sie gerade diese zwölf wählten.“ Vielleicht weil die Gruppe zusammen arbeitete und unauffällig zusammen sein konnte. Der Major bewohnte eine Villa außerhalb des Ghettos. „In einer Nacht-und-Nebel-Aktion haben sie die Gruppe, darunter meine Mutter, in den Keller der Villa gebracht. Nach einiger Zeit wurde es zu gefährlich. Meine Mutter war zu dieser Zeit schwanger mit mir.“

Wieder in der Nacht brachte der Major die zwölf im Lkw in einen Wald. Es war dunkel und kalt, alle wurden mit Decken zugedeckt und waren lange unterwegs. Sie wurden in einem Bunker versteckt. Deutsche Soldaten patroullierten im Wald. Die große Gefahr aber sei gewesen: Was passiert, wenn das Baby auf die Welt kommt? „Ein Baby kann man nicht abhalten zu schreien und zu weinen. Die Gruppe überlegte: Wenn das Baby auf die Welt kommt, müssen wir es umbringen. Wie machen wir das?“ Sie sprachen vom Erdrosseln.

„Der Tag meiner Geburt kam und man entschied: Alle werden sterben oder alle werden überleben.“ Niemand habe gewusst, wie eine Geburt vor sich geht. Ein Förster habe geholfen. Kurz darauf wurden alle von der russischen Armee befreit.

„Alle werden sterben oder alle werden überleben“

Nach dem Krieg wollten die Eltern nach Amerika auswandern und gingen in die amerikanische Zone nach München, um ein Visum zu beantragen. Es dauerte. Als das Visum kam und sie innerhalb einer Woche nach Hamburg aufs Schiff sollten, zögerten sie. „Das war zu plötzlich. Meine Eltern haben das immer vor sich hergeschoben.“ Seine Mutter wurde herzkrank. Sie blieben schließlich ihr ganzes Leben in München. Haller sagt: „Ich fühle mich weniger als Deutscher, aber als Münchner. Ich habe zwei Identitäten: Jude und Bayer.“

Den Major fanden sie über den Suchdienst des Roten Kreuzes. Er lebte in Nürnberg und zog zeitweise zu ihnen. „Ich habe diesen Mann geliebt. Ich habe mit ihm gespielt.“ Haller nennt ihn Opa. Er kam oft, bis er in den 50er-Jahren starb.

Anfang der 80er-Jahre erhielt Haller ein Schreiben aus Los Angeles. Ob er unter bestimmten Umständen in einem Wald in der Ukraine geboren sei? Irena Gut suchte ihn und kam auf Einladung nach München. Am alten Flughafen in Riem gab es ein Treffen. „Alles sehr amerikanisch mit einem Kamerateam. Wir haben uns umarmt, obwohl ich sie gar nicht kannte.“ In den Jahren danach trafen sie sich mehrfach, etwa als sie in Yad Vashem in Jerusalem geehrt wurde.

Eduard Rügemer wurde auf Bitte Hallers posthum ebenfalls in Yad Vashem geehrt. Sein damals in Allersberg lebender hochbetagter Sohn erhielt dazu eine Urkunde – natürlich im Beisein von Haller. Er ist nun der letzte Überlebende der 13 Geretteten. Der letzte Zeuge ihrer Rettung. Er war dabei, als es 2009 darüber ein Theaterstück am Broadway in New York gab. Er wird dabei sein, wenn der Film Irenas Versprechen in die deutschen Kinos kommt. (Thomas Schuler)
 

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